LYRIK
Vielleicht Vielleicht gibt es dich gar nicht Hier oben bei den Lebewesen Und es ist nur die barmherzige Nacht Die zärtlich meinen Nacken streift Es ist nur der Flug einer Taube Der mich das Fürchten Vor dem Abschied lehrt Und ein als Narr verkleideter Baum Der mich zum Lachen rührt Es ist nur das Wimmern eines Fuchses Das mich glauben macht du weintest Nur das Säuseln des Windes Das sich durch meine Laken wühlt Und allein die Morgendämmerung Die mir die Augen öffnet
Ungefragt Ich habe dir nicht erlaubt Meiner Spur zu folgen Mich einzuholen Neben mir herzugehen Ich habe dich nicht eingeladen Mein Haus zu betreten Meine Mauern einzureißen In den Trümmern unter dem nackten Himmel Ein Feuer zu entzünden Ich habe dich nicht gebeten Mich zu verwirren und aufzuschrecken Mich im Arm zu halten Meine Träume zu bevölkern All das hast du dir herausgenommen Und das ist schön Denn um nichts in der Welt Hätte ich mir dich verwehren wollen
Der Takt der Zeit Durch dich ist die Zeit eine andere geworden Es existieren weder Sekunden, noch Minuten Weder Stunden, noch Tage, noch Jahre Geblieben ist nur die Zeit, in der du bei mir bist Und die Zeit, in der du nicht bei mir bist
Unser Ende Alles beginnt und endet Zur exakt richtigen Zeit Am exakt richtigen Ort Und dieses alles umfasst wohl auch Unsere Augenblicke Unsere Nähe Unsere Vertrautheit Unsere Geheimnisse Unsere Umarmungen Unsere Erzählung Eben unsere Zweisamkeit Uns Dich Mich So beginnen und enden wir Zur exakt richtigen Zeit Am exakt richtigen Ort Naturgemäß können wir beide nicht ewig sein Aber wir können es zumindest versuchen
Insomnie Die ganze Nacht über bin ich schlaflos Und kann nicht aufhören mich zu wundern Ich wundere mich über Deinen Körper, der nackt und wehrlos neben meinem liegt Und deine erhitzte Haut, die mich unabsichtlich wärmt Ich wundere mich über Deinen wohligen Geruch, der mir langsam vertraut wird Und deinen kühlen Atem, der meine Locken streift Ich wundere mich über Deinen Mund, der in einer mir fremden Sprache murmelt Und deine Augen, die unter geschlossenen Lidern zittern Ich wundere mich über Deinen Arm, der mich wie selbstverständlich hält Und deine Hand, die selbst im Traum nach mir tastet Ich wundere mich eben darüber, wie es sein kann Dass du einzig im Schlaf meine Seele berührst
Der Schlaf Wieder einmal fällt mir die Nacht auf den Kopf Und der Schlaf ist alles, woran ich noch glaube Ich schließe die Augenlider und warte auf ihn Ich spüre die Minuten von den Wangen tropfen Ich atme mich in die Geborgenheit der Schatten Ich wälze mich durch die Landschaft aus weißen Laken Ich seufze vor Müdigkeit und glühender Ungeduld Ich lausche der Stille am sternenklaren Himmel Ich taste mit der Hand nach einem möglichen Traum Und wieder einmal fällt mir die Nacht auf den Kopf Und der Schlaf ist alles, woran ich noch glaube
Ufer Der Sturm ist nun vorüber Mein Schiff liegt im Hafen und ruht Das Herz wiegt sanft auf und ab Das Vogelgeschrei ist verstummt Der Wolkenbruch auch und die Blitze am Grund Die Wunden heilen im Licht Ich übe mich im Verzeihen Ich verzeihe mir den Sturm Das zerrissene Segel Den abgeblätterten Lack Das Wasser an Deck Ich setzte die zittrigen Beine ans Ufer
Zeit Mein Herz ist eine Uhr Ein tickender Lappen Ein pochender Zeitzünder Mein Herz ist eine Bombe Und ungeduldig
Staublawinen Staublawinen im Haar Ritzen wir uns Lachmünder In die Gesichter aus ergrautem Eis Gegen die Langeweile Wälzen wir unsere Körper Im Blütensaft Wie Eidechsen Gefrieren wir Im Winter Schneeflocken In den Gehirnen Verprügeln wir einander Bis wir endlich Tot sein dürfen Immer Manchmal Muss man Ganz leicht - wir fliegen ja - Etwas machen Gegen Gegen Die abgestorbenen Dinge Um uns Gegen Gegen - uns zu wehren eben - - Wohingegen Der Blütensaft So Süß ist -
Phantomschmerz Ich berühre dich nicht? Und doch trage ich Deine Hand auf meiner Wange Dein Gesicht auf meinen Lippen Deine Tränen auf der Zunge Ich trage Deine Stimme in meinem Ohr Deinen Schweiß auf meiner Haut Deine Gedanken hinter meiner Stirn Immerfort berührt von dir
Vielleicht hast du recht Ich bin eine Welle Und jeden Moment Eine Andere Und nicht zu fassen Ich trage dich Ich hülle dich ein Ich breche über dir Ich tauche dich unter Werfe dich ans Ufer Ich bin winzig und glatt Und wieder groß und gewaltig Still und tosend Dann schäume ich Und bäume mich auf Ich stürze hinab Ich löse mich auf Ich dufte nach Salz Und du schwimmst
ZWIEGESPRÄCHE ist ein Online-Lyrik-Projekt in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Frank Jacob. Das Copyright der Fotos auf dieser Seite liegt bei ihm.
Irrtümer Nun irre ich also Durch Zugabteile und Von Bahnsteig zu Bahnsteig Von Stadt zu Stadt. Aber Sind Städte wirklich Frauen Wie du sagst? Und jede so ... Wie sagtest du? Besonders? Ich irre also Von einer Bar in die übernächste Und von deinem Bett in sein Bett: Die Zigarette im Mund Den Koffer im Herzen Leer manchmal.
Domizil Mit weit aufgerissenem Brustkorb Irrst du durch die Welt. Und ich? Ich möchte ankommen. Dort: In dir.
Abendfüllende Körper prägen Körper sind Körper und süß manchmal Nähe Ist begrenzt im Jetzt und Bedeutung vergeht In der Zeit Da hilft es die keimende Angst An der Wand zu zerschlagen Ein Zustand Ist abendfüllend Vielleicht nicht gerade Ewigkeit Aber man kennt einander ehe man sich vergisst So oder so werden Narben gezeichnet Doch Nähe ist Nähe ist Nähe ist Nähe manchmal .
Das Schweigen vor der Stille Ich habe dich in meinem Ohr, obwohl der Sommer lauter ist als sonst. Ich frage mich, ob du noch lebst. Du schweigst, also musst du tot sein. Du musst tot sein, ganz natürlich. Wie sonst erkläre ich mir diesen Zustand? Aber was, wenn du gerade lachst, dich unterhältst, liest, duschst, trinkst, schreibst. Was, wenn du sogar glücklich bist oder auch nur gelaunt. Was, wenn du denkst – und du denkst immer - und nicht über mich, an mich, um mich herum oder zärtlich, wie du sagst.
Bitte sich festzuhalten achtung. auftritte freihalten. bitte sich festzuhalten... morgens, an dem rotgelockten kind, das auf seiner lippe herumkaut? an dem geblümten bügelbrett, das versehentlich auf meinem rechten fuß abgestellt worden ist? an dem käfig mit der mageren katze, der von dem hageren mann mit den leeren augen umklammert wird? schwarzfahren führt zu verspannungen - natürlich, natürlich. türen öffnen und schließen selbsttätig. Ich denke an die Möglichkeit einer Notbremsung und weigere mich die Haltegriffe zu benützen. Anlehnen verboten. Wo also (heute auf dem weg zum arzt, das hypochondrische wesen stillzulegen) bitte mich festzuhalten? an der zunge des kindes, die es mir soeben herausstreckt, an der tatze der katze, den knien des leeren mannes, den blumen auf meinem fuß? da endlich, festhalten: an der notbremse (missbrauch strafbar), am nothammer (bei gefahr scheiben einschlagen). ich unterschätze nicht die fingerfertigkeit von taschendieben und beobachte die bügelbrettfrau mittlerweile skeptischer. rauchen ist auch verboten. wagen (nr. 661) hält. wie zum teufel funktioniert die tür-notbetätigung? und weshalb ist der verbandkasten am fahrerplatz. lach-haft, steht da. ich überlege, wer hier meinen sitzplatz nötiger bräuchte, sofern ich einen hätte (sehen sie nicht weg) und suche den wagen nach älteren oder körperbehinderten personen ab, denen ich unaufgefordert platz machen könnte (danke). endlich eine horde kinder, mit rosa mützen, mädchen nur, die den käfig ignorieren und mit der katze spielen wollen. bitte sich festzuhalten. gerne.
Wie lange bist du her? Heute bin ich schweißnass aufgewacht Und wollte mich verlieben Doch neben mir lagst Du Und Du bist lange her Du wachtest schweißgebadet auf Und warfst mir ins Gesicht Du willst dich heut verlieben Nicht? Und wir sind lange her Deine Worte ließen meine Wangen brennen Wir liebten uns, entliebten uns für morgen Heute bist Du schweißnass aufgewacht Und hattest dich verliebt Ich liege längst im fremden Bett Doch Ich bin lange her Und was wird übermorgen sein?
Das erste Mal Nur einmal wieder sich verfärben im Frost Oder herzflimmernd weinen Oder schneeerne Haut betasten Oder Alpträume jagen und schreiend erwachen Einmal wieder Von Sinnen sein An Küssen ersticken An Gedanken ertrinken An Wut zerbersten An Körpern verzücken Noch einmal alles sein im ersten Mal Erste Mahnmale aus der Erinnerung reißen Auslöschen: Das Herz Den Schnee Die Jagd Die Küsse Den Rausch Die Scherben Das Zittern Einmal wieder ein erstes Mal erahnen
Der Nichtschwimmer und das Meer Du sagst, ich wäre das Meer Darin: Kein Zufluchtsort Kein Raum für deine Schwäche Ein Strampeln nur in der Ekstase Zittrige Glieder und Schnappen nach Luft Es laugte mich aus, dieses Meer, sagst du Nun stehen die Wellen ja still, sage ich
Stille Wenn ich schmerze Wie ein Gehörsturz Du mir deine Schulterblätter zeigst Und ich dabei nicht träumen kann Frage ich hinein in das Zittern: Kann man sich zudecken Kann man sich zudecken Mit einem anderen Körper? Tinnitus Dann Endlich
With love Ich steige stumm auf die Barrikade Stoße dich ein wenig um Gerade so Dass du mich ahnen kannst Ich schweige dich an Entdecke deine Hand nicht Gerade so Dass es mir nur zugestoßen sein könnte Ich strauchle dir ins Wort So dass deine Pointe ersäuft Gerade so Dass du nicht errätst Dass etwas mit deinem hübschen Gesicht nicht stimmt
Phantasie Du liebtest mich nicht Du küsstest mich nicht Und dennoch liebküsste ich dich Auf meine Art, irre und wahr In der Phantasie mit Gefühl Ich liebte dich nicht Ich küsste dich nicht Und dennoch liebküsstest du mich Auf deine Art, irre und wahr In der Phantasie mit Gefühl In der Wirklichkeit aber Begegneten wir einander niemals
Gerüche sind ja Menschen Gerüche, das sind ja Menschen, muss ich sagen. Mein Opapa, zum Beispiel. Ich habe seine angebrochene Parfumflasche geerbt. Seit der Opapa nicht mehr ist, steht die auf der Kommode, gleich neben der Fotografie vom Opapa: darauf er schwarz-weiß, lebendig noch, nicht tot wie jetzt. Ich öffne also den Flakon vom Opapa und rieche daran. Schon ist er hier, ganz nah bei mir. Mein Vater hat sich übrigens mehrere Flaschen des Parfums vom Opapa auf Vorrat gekauft. Die Fläschchen, die sind sicher aufbewahrt, eingeschlossen in der Schublade des Sekretärs. Zu wichtigen Anlässen nimmt der Papa den Opapa aus der Schublade. Ja, der Papa nimmt den Opa mit. Der Opapa war auf unserem Weihnachtsfest. Und auch, wenn Entscheidungen zu treffen sind, sitzt der Opapa, der Duft vom Opapa mitten im Familienrat. Der Opapa liegt sozusagen in der Luft und wir, wir atmen ihn dann ein.
Glühbirnen Der weiße Topf mit den Blumen, das Geschirr, ja das Geschirr, welches sie vor vierzig Jahren, nicht wahr, dieses, dort, bei mir jetzt. Dort drinnen die Milch, die Milch in der Bierflasche, die Milch im Mund, Lider geschlossen. Die weiße Madonna, das Weihwasser, weshalb diese Kerze, welche sie seit vierzig Jahren, nicht wahr, dort oben, bei mir jetzt, im Fenster. - Glauben muss man, sagt sie. - Glauben, ja, glauben. - Wer nicht glaubt, sagt sie. - Ja, dem, der nicht glaubt an Glühbirnen auf Ästen, nein, Weinranken, gegen die Vögel, und Pralinenpapier, farbig wie Frost, der ist nicht auf dem Bild, nur der Schlitten auf ihr, ich auf ihr, löchrige Handschuhe auf ihren großen weißen Brüsten, dem langen dünnen Haar in der Erinnerung, den Augen, den grauen, aber jetzt, aber jetzt die Schritte so langsam, seit seit seit seit ... sie darf ja nicht, durfte nicht, niemals, auch nur irgendwo hin gehen, wie das eben so war, früher. Der Bus, die Tulpen umklammert, die Maiglöckchen daneben, gewunken hat sie heute nicht, war sie denn müder als sonst? - Nein, glauben muss man, sagte sie. - Glauben, ja, glauben, sagte ich. - Wer nicht glaubt, sagte sie. - Ja, traurig der nicht glaubt, sagte ich bei mir.
Schmale Gehwege er merkt an, die gehwege in graz seien zu schmal. - wir sind nicht in der großstadt. - zu schmal sind die. - mag sein. - und die menschen laufen ohne rücksicht. - der stärkere gewinnt. - ich weiche immer aus. - bei alten menschen, ja. - immer muss ich ausweichen, weil / - du nicht anders kannst. - wie die mich ohne rücksicht immer ausweichen lassen. - ja, eben, der stärkere gewinnt. - in der großstadt, da sucht sich jeder seinen weg / - mit respekt / - gegenüber den körpergrenzen. aber hier / - sind zu wenig menschen, keine massen / - durch die man seinen weg bahnt. - es sind zu wenig menschen hier / - zu wenig um rücksicht zu nehmen / - auf die anderen, die da noch laufen / - auf viel zu schmalen gehwegen. - verletzt dich das? - die verletzten körperräume, ja. - du musst weitergehen. - das kann ich nicht. - du musst durch sie hindurchsehen - und einfach weitergehen. das kann ich nicht. - du musst direkt auf sie zurennen. sie werden ausweichen. - nein. - du musst beim direkt-auf-sie-zurennen deine tasche schwingen. so. - so? - genau so. - versuch es. - nein. - versuche es. - nein. - dann sprich mir nicht von zu schmalen gehsteigen und / - ja. und? - und hau ab in deine eigene stadt - das werde ich auch - der stärkere gewinnt in kleinen städten - kulturhauptstädten - das kulturelle erbe, ja. schwing deine tasche. jetzt. - so? - härter. - gut so? - besser. - so? - ja. jetzt noch den blick geradeaus. - starr. - ja, sehr starr, stur. etwas blinder noch. - so? - ja. - jetzt, hab ich es. das fühlt sich gut an. - gut. - ich fühle mich gestärkt und stur und - ja? - wie sich das anfühlt. ich, der stärkere, der monarch des gehweges, des kulturerbes, dieser scheiß provinzstadt, ich, der, der nicht ausweicht, der beschwingte, der gestärkte, der stärkste / - achtung, pass auf jetzt, ein alter herr mit stock. - und: AUSWEICHEN JETZT! - PLATZ MACHEN! - HIER, körper an das schaufenster. SCHNELL, JETZT! - kommt er vorbei? - ich hoffe, ja. - sieht gut aus, ja. - recht hast du. - GRÜSS Gott! - Grüß GOTT! - … - fort ist er. - geradewegs an uns vorbei. - nicht von seinem Weg abgekommen. - nicht ausgewichen. - fabelhaft. - ich freue mich. - ich liebe dich. - aber jetzt schwing die tasche wieder. - aufgepasst, da kommt jemand. - gut so. - auf die plätze, fertig, direkt-drauf-los-rennen!
Das melancholische Kind Schnee bricht von meinen Wangen Damals schon gefror mein Lachen wofür niemand etwas konnte Denn ich war ein glückliches Kind Ich träume nicht mehr Nicht einmal mehr von Schnee Ich musste ja eines Tages von mir eilen Und jetzt will ich deshalb nie wieder schlafen Aber ich sehne mich nach mir Manchmal Das kommt immer seltener vor Nur wenn Schnee Von meinen Wangen abstürzt und sich ballt In mir Und das ist nie Nie wieder das erste Mal Dass jemand schlafwandelt in meiner Jahreszeit Begraben unter meinem Schnee
THEATERTEXTE
Bühnenbearbeitung „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang Goethe (1 WD, 2 MD, Per H. Lauke Verlag, Hamburg) WERTHER: 16. Juni. Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. LOTTE: Ich habe – ich weiß nicht. WERTHER: Ein Engel! LOTTE: Pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? WERTHER: Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen wie vollkommen sie ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangengenommen. LOTTE: Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, WERTHER: zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Und es wurde ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. „Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen.“, sagte meine Gesellschafterin. LOTTE: Nehmen Sie sich in acht, dass Sie sich nicht verlieben. WERTHER: Wieso? LOTTE: Sie ist schon vergeben. An einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist. LOTTE entzieht sich WERHTER, geht nach hinten und beginnt zu tanzen. WERTHER: Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig. Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. LOTTE: Ich komme gleich! WERTHER: Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blaßroten Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem ein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein „Danke!“. LOTTE: Ich bitte um Vergebung, dass ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemandem Brot geschnitten haben als von mir. WERTHER: Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer zu holen. WERTHER geht zu LOTTE und beginnt mit ihr zu tanzen, tanzt immer wilder und wilder. WERHTER: Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sie sagte mir den dritten zu. LOTTE: Wenn diese Leidenschaft ein Fehler ist, so gestehe ich Ihnen gern, ich weiß mir nichts übers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles wieder gut. WERTHER: Wie ich mich in den schwarzen Augen weidete – wie die lebendigen Lippen und die frischen munteren Wangen meine ganze Seele anzogen. Mit welchem Reize, mit welcher Flüchtigkeit bewegte sie sich! Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswürdigste Geschöpf in den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, dass alles rings umher verging. WERTHER tanzt so wild, dass die beiden auseinander wirbeln und auf den Boden stürzen. Außer Atem halten sie inne.
Winterstarre von Astrid Kohlmeier (1 WD, 1 MD, 1 Musiker/in, Per H. Lauke Verlag, Hamburg) WINTERSTARRE GEBURTSTAGE Es ist eine dieser geheimnisvollen Nächte, in denen man auf den Straßen keiner einzigen Seele begegnet und den Eindruck bekommt man sei ganz allein auf der Welt. Eine junge Frau streift durch die schlafende Stadt. In einer kleinen Bar, nicht weit von der Oper entfernt, brennt noch Licht. Die Frau eilt auf den tröstlichen Schimmer zu, schlüpft in das dämmrige Lokal und stößt beinahe mit dem Kellner zusammen, der ihr zuzwinkert und dann wortlos hinter ihr die Tür zweimal versperrt. Einige wenige Gäste bevölkern den Gastraum und streifen die junge Frau kurz mit ihren müden Blicken, denn sie ist mit ihrem schlanken Körper und dem unnahbaren Gesicht auf eine unaufdringliche Art und Weise schön anzusehen. In der Ecke spielt ein Pianist eine sanfte, melancholische Melodie auf einem schäbigen Klavier und gähnt. Gerade verteilt der Kellner Aschenbecher auf den wenigen besetzten Tischen. Die junge Frau sieht sich aufmerksam um, setzt sich auf einen der Barhocker und gibt dem Mann, der bereits wieder hinter der Theke steht, ein Zeichen. Er nickt ihr zu und füllt ein Glas mit Weißwein und Wasser. Die junge Frau nimmt das Glas entgegen und lächelt den Kellner dankbar an. Jetzt holt sie eine Zigarettenpackung aus ihrer Tasche hervor, steckt sich eine Zigarette an, inhaliert genüsslich und ohne Hast und versucht, mit ihren Lippen vollkommene Rauchringe in die Luft steigen zu lassen. Aus dem Augenwinkel nimmt sie eine Bewegung wahr. Ein Mann mittleren Alters bahnt sich den Weg von der Toilette zu seinem Platz. Das Gesicht der jungen Frau hellt sich unvermittelt auf. Sie hebt ihr Glas in Richtung des Mannes, der nun alleine und scheinbar in Gedanken versunken an seinem Tisch sitzt, doch er ist ganz bei sich und übersieht ihre Geste. Die junge Frau beobachtet ihn eine Weile unverhohlen und ohne Scham, ehe sie schließlich einen Entschluss fasst. Sie dämpft ihre Zigarette aus, versucht sich mit einem Lächeln selbst Mut zu machen und rutscht von ihrem Hocker. Nervös zupft sie ihr Kleid zurecht und nähert sich langsam, ja bedacht dem Mann. Sie atmet noch einmal hörbar aus, strafft ihren Körper und spricht den Fremden an. Junge Frau: Entschuldigen Sie bitte, verzeihen Sie! Guten Abend. Der Fremde: Guten Abend. Junge Frau: Erwarten Sie jemanden? Der Fremde schüttelt den Kopf. Junge Frau: Haben Sie dann vielleicht einen Augenblick Zeit? Der Fremde: Zeit wofür? Junge Frau: Wissen Sie, es gibt heute etwas zu feiern. Der Fremde: Tatsächlich? Junge Frau: Ja. Und ich möchte nicht, ich möchte nicht allein … Der Fremde: Sie haben doch nicht etwa Geburtstag? Junge Frau: Doch. Der Fremde: Und Sie sind ganz allein? Junge Frau: Ich erwarte jemanden, aber ich bin wohl etwas zu früh gekommen. Der Fremde: Oder zu spät? Junge Frau: Das könnte möglich sein. Und da dachte ich mir … Der Fremde: Ja? Junge Frau: Vielleicht könnten wir beide doch … Der Fremde: Was? Junge Frau: Gemeinsam ein wenig feiern. Die junge Frau blickt den Fremden erwartungsvoll an, doch er schweigt. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Einen Augenblick nur. Sie bettelt beinahe, kann es nicht mehr ungeschehen machen und schämt sich ein wenig dafür. Dann ist dieser Moment auch schon vorüber und sie rückt ohne seine Antwort abzuwarten einen Stuhl heran und setzt sich. Der Fremde: Bitte. Nehmen Sie doch Platz. Junge Frau: Danke. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Die beiden schweigen. Junge Frau: Ich weiß, es ist kein Zufall, dass gerade Sie mir heute hier begegnen. Der Fremde: Und ich glaube nicht ans Schicksal. Junge Frau: Ich spreche nicht von Schicksal. Ihre Erwiderung ist beinahe ein Flüstern, klingt verletzt. Wissen Sie, falls Sie es nicht bemerkt haben sollten: Ich habe eben all meinen Mut zusammengenommen, um Sie anzusprechen. Denn ich bin - ob Sie es glauben oder nicht - von Natur aus ein ganz und gar schüchterner Mensch. Der Fremde: Tatsächlich? Junge Frau: Aber weshalb sage ich Ihnen das? Der Fremde: Vielleicht, weil Sie auch ein ganz und gar ehrlicher Mensch sind? Junge Frau: Und Sie? Der Fremde: Ich? Junge Frau: Was sind Sie ganz und gar? Der Fremde: Ich bin ein ganz und gar dankbarer Mensch. Junge Frau: Waren Sie immer schon dankbar? Der Fremde: Nein, ganz und gar nicht. Aber diese Geschichte führt zu weit. Junge Frau: Mögen Sie denn keine Geschichten? Der Fremde: Das kommt naturgemäß auf die Geschichte an. Junge Frau: Und Geheimnisse? Mögen Sie Geheimnisse? Der Fremde: Geheimnisse von Fremden? Wie Ihnen? Junge Frau: Zum Beispiel. Der Fremde: Das kommt auf das Geheimnis an. Aber grundsätzlich denke ich, man sollte die wenigen kostbaren Geheimnisse, die man hat, für sich behalten. Sonst wären es ja schließlich keine Geheimnisse mehr.“ Junge Frau: Da bin ich mir nicht sicher. Der Fremde: Ich schon. Junge Frau: Es erfordert doch einiges an Mut, um ein Geheimnis zu teilen. Aber sobald jemand Bescheid weiß, ist man nicht mehr ganz so allein mit seiner Wahrheit. Der Fremde: Reden Sie immer so philosophisch daher? Junge Frau: Sie machen sich lustig über mich. Der Fremde: Vielleicht. Ein wenig. Junge Frau: Sie können nun natürlich noch aufstehen und gehen, falls ich Ihnen zu philosophisch bin. Der Fremde: Das hier ist mein Platz. Junge Frau: Wie bitte? Der Fremde: Wenn, dann sollten doch Sie aufstehen und gehen. Das hier ist mein Platz. Ich war zuerst hier. Sogar in dem dämmrigen Licht kann der Mann sehen, dass die junge Frau errötet. Junge Frau: Nun gut. Auf Wiedersehen. Sie steht abrupt auf, nimmt ihre Tasche und ihr Glas und dreht dem Mann den Rücken zu. Er betrachtet ihren trotzigen Rücken und fürchtet auf einmal, sie könnte aus der Tür stürmen und er würde sie nie wiedersehen. Der Fremde: Nun seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt. Junge Frau: Ich warte besser drüben. Es liegt eine Kälte in ihrer Stimme, die er ihr nicht zugetraut hätte. Der Fremde: Ich habe doch nur einen Spaß gemacht. Bleiben Sie ruhig. Kommen Sie schon. Setzen Sie sich wieder. Die junge Frau zögert, steht unentschlossen da und sieht dem Fremden das erste Mal direkt in die Augen. Ihre Lippen sind gekränkt gekräuselt und ihre Augen sehen mit einem Mal unsagbar traurig aus. Der Fremde: Wie Sie gerade eben gesagt haben, das alles hier kann doch kein Zufall sein. Junge Frau: Sie machen sich schon wieder lustig. Der Fremde: Nein, wirklich nicht. Ich meine es ernst. Sie hier. Ich hier. Gemeinsam. Wie verabredet. Meinen Sie nicht? Junge Frau: Sind Sie immer so? Der Fremde: Ja. Und nun setzen Sie sich wieder hin. Der Fremde nimmt die Hand der jungen Frau, die ihn an einen winzigen Vogel erinnert und zieht sie sanft auf den Stuhl neben sich. Junge Frau: Nun gut, aber nur für einen Augenblick, bis meine Begleitung kommt. Der Fremde: Einverstanden. Wie heißen Sie? Die junge Frau zögert. Junge Frau: Das tut nichts zur Sache. Der Fremde: Weshalb denn nicht? Vielleicht möchte ich ja gerne wissen, mit wem ich gemeinsam Geburtstag feiere. Junge Frau: An diesem Geburtstag möchte ich einfach nur Mensch sein, Ich sein. Verstehen Sie, was ich meine? Der Fremde: Nun ja, ich denke schon. Junge Frau: Sehen Sie. Und Sie … ich dachte … Sie dürfen Sie sein, mir nah sein und fremd bleiben.“ Der Mann hebt sein halb gefülltes Glas, die Frau hebt ihres und stößt mit ihm an. Der Fremde: Zum Wohl! Auf uns! Auf Ihren Geburtstag! Die beiden trinken und schweigen ein wenig. Der Fremde: Jetzt schweigen Sie? Junge Frau: Vorhin habe ich Sie angesprochen und nun weiß ich nicht weiter. Der Fremde: Erzählen Sie mir etwas. Etwas von sich. Junge Frau: Ich weiß nicht recht. Der Fremde: Kommen Sie schon. Ich beiße nicht. Junge Frau: Ich … Der Fremde: Wenn Sie mir schon nicht Ihren Namen verraten wollen, könnten Sie mir doch erzählen, wer Sie sind. Junge Frau: Jetzt werden Sie aber philosophisch. Der Fremde: Vielleicht. Junge Frau: Und wo beginnen? Der Fremde: Mit einem Wort vielleicht? Junge Frau: Winterstarre. Der Fremde: Was? Junge Frau: Winterstarre. Jetzt sehen Sie mich so verwundert an. Erst wünschen Sie sich ein Wort. Dann gebe ich es Ihnen. Und dann schauen Sie so seltsam. Der Fremde: Sie wollen an Ihrem Geburtstag über die Winterstarre sprechen? Sind Sie etwa Biologin?“ Junge Frau: Was wissen Sie über die Winterstarre? Der Fremde: Nun … ich glaube, Lebewesen verfallen in eine Winterstarre, wenn die Temperatur unter das tolerierte Minimum fällt. Außerdem werden alle Lebensvorgänge dabei auf annähernd Null zurückgefahren und die Körpertemperatur passt sich der Außentemperatur an. Junge Frau: Und weiter? Der Fremde: Der Herzschlag pro Minute ist meist sehr gering, genau wie die Atemfrequenz. Junge Frau: Aber die Augen, die Augen bleiben geöffnet. Sie schweigen wieder. Junge Frau: Wissen Sie, ich bin der Winterstarre nämlich begegnet. Aber das ist schon viele Jahre her. Ich war damals fast noch ein Kind. Der Fremde: Sie denken an Ihrem Geburtstag nicht über die Zukunft, sondern über die Vergangenheit nach. Junge Frau: Tun wir denn das nicht alle? Der Fremde: Sie sind also der Winterstarre begegnet. Junge Frau: Ja. Der Fremde: Und? Weiter? Junge Frau: Nichts weiter. Die junge Frau verschränkt die Arme trotzig vor der Brust. Der Fremde: Nun kommen Sie schon. Junge Frau: Nun gut … Ich glaube, ohne es zu wissen begegnen auch Sie der Winterstarre tagtäglich. Der Fremde: Ich kann Ihnen wirklich nicht ganz folgen. Junge Frau: Sie begegnen ihr als Mann, Frau oder Kind. Was ich sagen will, ist, die Winterstarre macht vor niemandem Halt.“, erklärt sich die junge Frau ungeduldig. Der Fremde blickt sie immer noch verständnislos an, sodass sie fortfährt: „Ich meine damit, dass die Winterstarre kein Alter kennt und allgegenwärtig ist. Die Winterstarre ist hinter der Wohnungstür im Nachbarhaus, hinter dem Fenster, aus dem kein Licht nach draußen dringt, auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle und in der Schlange an der Supermarktkasse direkt hinter Ihnen. Die Winterstarre und Sie benutzen denselben Gehsteig in entgegengesetzter Richtung vielleicht, sie sitzt im Kino auf dem Platz neben Ihnen oder einen Schreibtisch weiter im Büro. Sie sind mit ihr verwandt, bekannt, ja befreundet. Und manchmal teilen Sie gar das Bett mit der Winterstarre. Und deshalb wäre es schön und gut, zumindest umeinander zu wissen. Halten Sie mich jetzt für verrückt? Der Fremde: Nein. Junge Frau: Nicht? Der Fremde: Noch nicht. Sprechen Sie ruhig weiter. Was hat es denn nun mit dieser Winterstarre auf sich? Junge Frau: Ich weiß nicht, wo beginnen. Der Fremde: Beginnen Sie am Anfang.
FACHBUCH
Vom Roman zum Theatertext. Eine vergleichende Studie am Beispiel der "Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang Goethe. Saarbrücken: VDM 2010. 228 Seiten. ISBN 978-3-639-27649-7 Dramatisierungen epischer Vorlagen gibt es seit Anbeginn der griechischen Tragödie. Diese bis heute geläufige Theaterpraxis wurde von der Wissenschaft bislang kaum einer umfassenderen Betrachtung gewürdigt. In diesem Buch zeigt nun eine Analyse der Spielpläne deutschsprachiger Bühnen im Zeitraum 2000/01 bis 2005/06 erstmals Wesen und Häufigkeit dieses Phänomens am Beispiel des Romans auf. Innerhalb der Aufführungspraxis des 20. und 21. Jahrhunderts hat sich zudem eine neue Form des Umgangs mit narrativen Texten herausgebildet, die nicht mehr mit dem Begriff Dramatisierung, sondern vielmehr mit jenem der Theatralisierung zu fassen ist. Ziel einer Theatralisierung ist nicht die Vorlage der Gattung Drama anzupassen, sondern ihr theatrales Potential aufzuspüren und innerhalb eines theatralen Schaffensprozesses performativ umzusetzen. Theaterpraktikern gibt dieses Buch anhand von Goethes vielfach für die Bühne bearbeiteten Romans "Die Leiden des jungen Werther" Anregungen zur formalen und inhaltlichen Umgestaltung eines Romans in einen Theatertext. Wissenschaftlern bietet es zudem neue, für derartige Theatertexte entwickelte Analysekategorien.